MSD 42

SPECIAL 04-2004

Zum 100.
Todestag - In Memoriam:
Theodor Herzl (1860-1904)
"Wenn
ihr wollt, ist es kein Märchen"
"Ist
das, was ich sage, heute noch nicht richtig? Bin ich meiner Zeit
voraus? Sind die Leiden der Juden noch nicht groß genug? Wir
werden sehen. Es hängt also von den Juden selbst ab, ob diese
Staatsschrift vorläufig nur ein Staatsroman ist. Wenn die
jetzige Generation noch zu dumpf ist, wird eine andere, höhere,
bessere kommen. Die Juden, die wollen, werden ihren Staat haben
und sie werden ihn verdienen."
(Theodor Herzl in seiner Vorrede zum "Judenstaat")
Er hatte
mit dichterischen Versuchen begonnen, früh eine blendende
journalistische Begabung gezeigt und war zuerst als Pariser
Korrespondent, dann als Feuilletonist der 'Neuen Freien Presse'
der Liebling des Wiener Publikums geworden. Seine Aufsätze,
heute noch bezaubernd durch ihren Reichtum an scharfen und oft
weisen Beobachtungen, ihre stilistische Anmut, ihren edlen
Charme, der selbst im Heiteren wie im Kritischen nie die
eingeborene Noblesse verlor, waren das Kultivierteste, was man
sich im journalistischen erdenken konnte, und das Entzücken
einer Stadt, die für Subtiles den Sinn sich geschult hatte. Auch
im Burgtheater hatte er mit einem seiner Stücke Erfolg gehabt,
und nun war er ein angesehener Mann, vergöttert von der Jugend,
geachtet von unseren Vätern, bis eines Tages das Unerwartete
geschah. Das Schicksal weiß immer sich einen Weg zu finden, um
den Menschen, den es braucht für seine geheimen Zwecke,
heranzuholen, auch wenn er sich verbergen will. Theodor Herzl
hatte in Paris ein Erlebnis gehabt, das ihm die Seele
erschütterte, eine jener Stunden, die eine ganze Existenz
verändern; er hatte als Korrespondent der öffentlichen
Degradierung Alfred Dreyfus' beigewohnt, hatte gesehen, wie man
dem bleichen Mann die Epauletten abriß, während er laut ausrief:
'Ich bin unschuldig.' Und er hatte bis ins innerste Herz gewußt
in dieser Sekunde, dass Dreyfus unschuldig war und dass er
diesen grauenhaften Verdacht des Verrats einzig auf sich geladen
hatte dadurch, dass er Jude war. Nun hatte Theodor Herzl in
seinem aufrechten männlichen Stolz schon als Student unter dem
jüdischen Schicksal gelitten - vielmehr, er hatte es in seiner
ganzen Tragik schon vorausgelitten zu einer Zeit, da es kaum ein
ernstliches Schicksal zu sein schien, dank seines prophetischen
Instinkts der Ahnung.
... Jetzt
aber in der Stunde der Degradierung Dreyfus' fuhr der Gedanke
der ewigen Ächtung seines Volkes wie ein Dolch ihm in die Brust.
Wenn Absonderung unvermeidlich ist, sagte er sich, dann eine
vollkommene! Wenn Erniedrigung unser Schicksal immer wieder
wird, dann ihm begegnen durch Stolz. Wenn wir leiden an unserer
Heimatlosigkeit, dann eine Heimat uns selbst aufbauen! So
veröffentlichte er seine Broschüre 'Der Judenstaat', in der er
proklamierte, alle assimilatorische Angleichung, alle Hoffnung
auf totale Toleranz sei für das jüdische Volk unmöglich. Es
müsse eine neue, eine eigene Heimat gründen in seiner alten
Heimat Palästina.
...Im
ersten Augenblick konnte sich Herzl mißverstanden fühlen; Wien,
wo er sich durch seine jahrelange Beliebtheit am sichersten
vermeinte, verließ und verlachte ihn sogar. Aber dann dröhnte
Antwort mit solcher Wucht und Ekstase so plötzlich zurück, dass
er beinahe erschrak, eine wie mächtige, ihn weit überwachsende
Bewegung er mit seinen paar Dutzend Seiten in die Welt gerufen.
Sie kam freilich nicht von den behaglich lebenden,
wohlsituierten bürgerlichen Juden des Westens, sondern von den
riesigen Massen des Ostens, von dem galizischen, dem polnischen,
dem russischen Ghettoproletariat. Ohne es zu ahnen, hatte Herzl
mit seiner Broschüre den unter der Asche der Fremde glühenden
Kern des Judentums zum Aufflammen gebracht, den tausendjährigen
messianischen Traum der in den heiligen Büchern bekräftigten
Verheissung der Rückkehr ins Gelobte Land - diese Hoffnung und
zugleich religiöse Gewißheit, welche einzig jenen getretenen und
geknechteten Millionen das Leben noch sinnvoll machte. ... Mit
ein paar Dutzend Seiten hatte ein einzelner Mann eine
verstreute, verzwistete Masse zur Einheit geformt. ...Die
Krankheit, die ihn damals zu beugen begann, hatte ihn plötzlich
gefällt, und nur zum Friedhof konnte ich ihn begleiten. Ein
sonderbarer Tag war es, ein Tag im Juli, unvergeßlich jedem, der
ihn miterlebte. Denn plötzlich kamen auf allen Bahnhöfen der
Stadt, mit jedem Zug, bei Tag und Nacht, aus allen Reichen und
Ländern, Menschen gefahren, westliche, östliche, russische,
türkische Juden, aus allen Provinzen und kleinen Städten
stürmten sie plötzlich herbei, den Schreck der Nachricht noch im
Gesicht; niemals spürte man deutlicher, was früher das Gestreite
und Gerede unsichtbar gemacht, dass es der Führer einer großen
Bewegung war, der hier zu Grabe getragen wurde. Es war ein
endloser Zug. Mit einemmal merkte Wien, dass hier nicht nur ein
Schriftsteller oder mittlerer Dichter gestorben war, sondern
einer jener Gestalter von Ideen, wie sie in einem Land, in einem
Volk nur in ungeheuren Intervallen sich sieghaft erheben. Am
Friedhof entstand ein Tumult; zu viele strömten plötzlich zu
seinem Sarg, weinend, heulend, schreiend in einer wild
explodierenden Verzweiflung, es wurde ein Toben, ein Wüten fast;
alle Ordnung war zerbrochen durch eine Art elementarer und
ekstatischer Trauer, wie ich sie niemals vordem und nachher bei
einem Begräbnis gesehen. Und an diesem ungeheuren, aus der Tiefe
eines ganzen Millionenvolkes stosshaft aufstürmenden Schmerz
konnte ich zum erstenmal ermessen, wieviel Leidenschaft und
Hoffnung dieser einzelne und einsame Mensch durch die Gewalt
seines Gedankens in die Welt geworfen."
Der
Beitrag über Theodor Herzl wurde Stefan Zweigs "Die Welt von
Gestern. Erinnerungen eines Europäers" entnommen. Es gibt keine
schönere und liebevollere Beschreibung. Dieses letzte Buch
Stefan Zweigs erschien 1944 im Berman Fischer Verlag in
Stockholm. 1949 wurden Theodor Herzls sterbliche Überreste, wie
er es in seinem Testament gewünscht hatte, in "seinen" Staat
Israel überführt und in Jerusalem beerdigt. Sein Grab befindet
sich auf dem nach ihm benannten Herzlberg, neben den letzten
Ruhestätten israelischer Politiker und dem Militärfriedhof.
msd42 03-04 2004 |